Knistern
Sensorium pt. 1
Was haben Kaktus-Eis und Schoko-Ostereier von Milka gemeinsam? Beide kommen mit einem sensorischen Add-On daher (das Kaktus-Eis obligatorisch, die Milka-Eier bei einer bestimmten Sorte): Knisterzucker. Pop Rocks. Kleine Zuckerstücke, die auf der Zunge knistern und bitzeln. Vor Kurzem fand ich pop rocks ganz unverhofft in einem Dessert als Topping wieder und es war, als würde in meinem neurospicy brain ein Dopamin-Feuerwerk gezündet. Bizzz, plopp, BOOM!
Papier, das durch den Schredder flattert, Holz, das lodernd knackt, Seidenpapier, das Produkte in einem Versandkarton verhüllt, transparentes Papier, das Fotos vor dem unumgänglichen Verfall bewahren sollen. Knisterlaute sind auf eine seltsame Art beruhigend und stimulierend zugleich. Auf Knopfdruck gibt es Knister-Pleasure jederzeit als ASMR-Sound auf Youtube oder Spotify. Wohliges Kopfhautkribbeln ist dabei – bei entsprechender Veranlagung – fast garantiert. Aber trotz der digitalen Möglichkeiten machen Pop rocks vielleicht am meisten Spaß, weil das Knistern dabei nicht nur hörbar, sondern fühlbar ist. Ein Sound in 3D, kleine Vulkan-Eruptionen im Sekundentakt, die Zunge und Gaumen kitzeln und bei geöffnetem Mund wie kleine Funken umhertanzen.
Nun ist es natürlich möglich, aber vielleicht nicht unbedingt förderlich, mir jeden Tag ein Dessert mit Knisterspaß einzuverleiben, um die guten Neurotransmitter in meinem Gehirn zu füttern. Wie lässt sich das Knistern also auf anderem Wege ins Leben, ins Herz, in die Seele holen? Diese Frage lässt sich für jeden Menschen individuell anders beantworten – meine Knistermomente waren zuletzt unter anderem diese:
eine Wanderung mit Regencape und meinen Freundinnen
der einfahrende Zug, dessen einen Passagier ich viele Tage lang vermisst habe
das Marzipan-Pistazien-Eis in der Mittagspause (ohne pop rocks tho)
der kleine Arm, der sich in seinem Schlafanzug um meinen Hals geschlungen hat
der Moment, in dem ich mein aktuelles Lesekreis-Buch abends aufgeschlagen habe, um da weiterzumachen, wo ich am Abend davor vor Müdigkeit aufhören musste
der Anblick der opulent blühenden Zucchini im Garten
die Idee für ein neues Schreibprojekt, das hier nun genauso Früchte trägt wie meine Zucchini-Pflanze
Was dieses Knistern ausmacht? Es ist friedlich, es verwandelt die Vorfreude aus der Vergangenheit in Freude im Jetzt. Aber das ist nur eine Spielart des Knisterns. Es gibt auch noch weitere: die, in der im Knistern auch Spannung liegt. In denen sich die stillen Zwischenräume im Knistern entladen. In denen das Knistern etwas erlösendes, erleichterndes, klärendes oder auflösendes mit sich bringt. Oder in denen es einfach nur Spannung und Ladung eine Form von Gestalt gibt, ohne dass diese sicht- und greifbar sein muss.
Diese Nuancen und Spannungsräume sind es, die ich auch in der Literatur so gern als Leserin auslote. Mal ist es eine subtile Grundspannung, die sich von der ersten bis zur letzten Seite durchzieht und eher als subtiles Grundrauschen leise krispelt und kraspelt, so wie bspw. in “Drei Wochen im August” von Nina Bußmann. Die Stimmung des Romans gleicht einem Donnergrollen in der Ferne, wenn die Luft schon dick wie Sirup ist und der Himmel sich verdunkelt. Ob aus dem Spannungsknistern das große Gewitter wird, sei an dieser Stelle nicht verraten.
Weniger bedrohlich, dafür höchst unterhaltsam knistert es in “Wackelkontakt” von Wolf Haas. Dort segnet ein Elektriker durch das Verschulden seines Kunden (ich sage nur: nicht die Sicherung reindrehen, wenn der Elektriker im Haus ist) das Zeitliche. Daraufhin kommt es zu einer Folge von ineinander auf skurrilste Weise verwobenen Ereignissen in zwei parallelen Zeit- und Handlungssträngen. Da hat’s in meinem Kopf beim Lesen ordentlich geknistert – mit einem Mix aus Vergnügen und Verwirrung.
Verwirrung war es auch, die in Deborah Levys “Heiße Milch” Leseknistern in mir ausgelöst hat. Eine zweite Erzählebene, die über Seitenzahlen im dreistelligen Bereich mysteriös bleibt. Eine Protagonistin, die ihr Leben und alle darin auftauchenden Personen permanent aus anthropologischer Perspektive betrachtet und analysiert. Eine Mutter, deren Leiden nicht greifbar ist. Dazwischen Quallen, ein angeketteter Hund und die spanischer Sommerhitze. Die Suche nach Orientierung war beim Lesen einziger Knisterstrom. Eine bunte Ladung pop rocks zwischen zwei Buchdeckeln. Ein Beweis dafür, dass wir fühlen und lebendig sind.
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